Wenn wir über unsere geistigen Aktivitäten reden, machen wir normalerweise Aussagen wie
(1) Ich erinnere mich an das Haus, in dem ich als Kind gelebt habe.
(2) Ich glaube nicht an den Weihnachtsmann.
(3) Ich bin traurig.
(4) Ich behaupte, dass das Matterhorn schneebedeckt ist.
Wir verstehen diese Aussagen problemlos, sofern wir die deutsche Sprache beherrschen. Doch wenn wir dazu aufgefordert werden, die einzelnen Bestandteile dieser Aussagen zu erläutern, sehen wir uns mit zahlreichen Problemen konfrontiert.
Zunächst stellt sich die Frage, ob jeder von uns mit dem Personalpronomen „ich“ auf etwas ganz Bestimmtes Bezug nimmt, und wenn ja, was dieses Bezugsobjekt ist. Kann ich mit „ich“ ähnlich wie mit „das Haus, in dem ich als Kind gelebt habe“ auf eine distinkte Entität Bezug nehmen und ihr bestimmte Eigenschaften zuschreiben? Und was ist diese Entität: mein Geist, eine Verbindung aus einem Geist und meinem Körper oder ein bestimmter Aspekt meines Körpers?
Zweitens stellt sich die Frage, was die geistigen Aktivitäten, die das Bezugsobjekt von „ich“ ausführt, genau sind. es ist bereits auf den ersten Blick ersichtlich, dass signifikante Unterschiede zwischen den vier genannten Fällen bestehen. Aktivitäten wie Erinnern, Glauben und Behaupten sind auf bestimmte Objekte gerichtet. Traurig-sein hingegen ist – zumindest auf den ersten Blick betrachtet—nicht auf ein Objekt gerichtet. Zudem fällt auf, dass es sich beim Erinnern und Behaupten um punktuell vollzogene Akte handelt, während das Traurig-sein offensichtlich ein Zustand ist. Und Traurig-sein enthält eine emotionale Komponente, die den übrigen geistigen Aktivitäten fehlt. Weiter ist bemerkenswert, dass das Erinnern eine frühere Wahrnehmung voraussetzt. Ich kann mich nur dann an das Haus meiner Kindheit erinnern, wenn ich über eine Sinneswahrnehmung von diesem Haus verfügt habe. Das Behaupten hingegen setzt keine solche Wahrnehmung voraus. Ich kann meine Behauptung allein aufgrund eines theoretischen Wissens von den Schneeverhältnissen im Hochgebirge aufstellen, ohne dass ich das Matterhorn je gesehen habe. Alle diese Unterschiede verdeutlichen, dass wir eine Klassifizierung von geistigen Aktivitäten vornehmen müssen, wenn wir die vier Aussagen nicht bloß verwenden, sondern im Rahmen einer Theorie auch erklären wollen.
Eine dritte Schwierigkeit stellt sich, wenn wir die Objekte der geistigen Aktivitäten genauer betrachten. Erinnern und Glauben ist offensichtlich auf Objekte gerichtet. Diese Objekte können jedoch von unterschiedlicher Art sein, wie die beiden Beispiele zeigen. Das Haus, in dem ich als Kind gelebt habe, ist ein Gegenstand, der reale Existenz hat (oder zumindest eine solche Existenz gehabt hat). Der Weihnachtsmann hingegen ist eine rein fiktive Person, die zu keinem Zeitpunkt reale Existenz hat. Heißt dies, dass es zusätzlich zu den realen Objekten auch fiktive gibt, auf die wir und richten können? Die vierte Aussage verdeutlicht, dass es neben jenen Aktivitäten, die auf einfache Objekte gerichtet sind, auch Aktivitäten gibt, die auf komplexe Objekte gerichtet sind. Ich richte mich nämlich nicht allein auf das Matterhorn oder allein auf etwas Schneebedecktes, sondern darauf, dass das Matterhorn schneebedeckt ist, und ich behaupte, dass dies der Fall ist. Heißt dies, dass es zusätzlich zu den einfachen Objekten (Haus, Matterhorn usw.) spezifische komplexe Objekte (Dass-das-Matterhorn-schneebedeckt-ist) gibt?
Eine Erklärung geistiger Aktivitäten ist erst dann philosophisch befriedigend, wenn sie für sämtliche drei Problembereiche Lösungen anbietet. Wir müssen erläutern, wer oder was das Bezugsobjekt von „ich“ ist, was für Aktivitäten dieses Bezugsobjekt ausführt und worauf sich die Aktivitäten richten. Eine historisch einflussreiche Erklärung, die alle drei Problembereiche berücksichtigt, findet sich bei Descartes und kann in wenigen Sätzen zusammengefasst werden: Das Bezugsobjekt von „ich“ ist der Geist, eine vom Körper distinkte Substanz. Der Geist vollzieht Aktivitäten, indem er repräsentierende Entitäten—so genannte Ideen—bildet. Je nach Objekt, das diese Ideen repräsentieren, werden sie auf der Grundlage einer Sinneswahrnehmung, einer bloßen Vorstellung oder eines rein geistigen Erfassens gebildet. Die Ideen existieren ausschließlich im Geist, doch sie vergegenwärtigen die einfachen und komplexen Objekte genau so, wie sie außerhalb des Geistes existieren.
Aus: Dominik Perler: Repräsentationen bei Descartes, Frankfurt am Main, Klostermann, 1996